Kapitel 2: Die unbestimmten Rechtsbegriffe und ihre DreiwertigkeitNormen und Technische Regeln
Allgemein anerkannte Regeln der Technik
Die Definition des Begriffs "allgemein anerkannte Regeln der Technik" (bzw. der Baukunst - nach früherer Terminologie) stammt ursprünglich aus dem Bau- und Ausbaubereich. Da es in diesem Bereich besonders viele technische Regeln gibt, wurde der Begriff durch die Rechtsprechung näher definiert. Die Definition lässt sich aber zweifelsfrei auf alle Gebiete der Technik übertragen. Unter allgemein anerkannten Regeln der Technik versteht man somit die Summe der in einem Fachgebiet anerkannten wissenschaftlichen, technischen und handwerklichen Erfahrungen, die durchweg bekannt sind und sich als richtig und brauchbar bewährt haben (WERNER; PASTOR; MÜLLER: Baurecht von A-Z. Lexikon des öffentlichen und privaten Baurechts. C.H. Beck Verlag, München, Köln, 2000, 7. Auflage).
Allgemein anerkannte Regeln der Technik/Baukunst stellen die vorherrschende Auffassung unter den technischen Praktikern auf dem betreffenden Fachgebiet dar. Zum Konsens der Fachwelt sind sie geworden, weil sie in der Theorie anerkannt sind und von der Praxis bestätigt wurden.
Stand der Technik
Der Begriff "Stand der Technik" stammt ursprünglich aus dem Umweltrecht. In Paragraf 3 Absatz 12 des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes (KrW-/AbfG) wird er definiert als "Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme (...) für eine umweltverträgliche Abfallentsorgung (...) gesichert erscheinen lässt."
Auch in den Absätzen 1 und 2 des Paragrafen 3 des Patentgesetzes (PatG) ist beschrieben, was als Stand der Technik gilt. Hier dient die Begriffsdefinition dazu, den Neuheitscharakter einer Erfindung zu erkennen.
Wesentlich zum Verständnis des Begriffs "Stand der Technik" und zu dessen Einordnung ist, dass die betreffenden Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen noch nicht notwendigerweise allgemein anerkannt sein müssen. Vorausgesetzt wird aber ein Entwicklungsstand, der die praktische Eignung im technischen Maßstab gesichert erscheinen lässt (BENDER et al. 1995: 346, RNr. 6/114). Diese Maßgabe kann von den Umwelttechniken auf alle Fachgebiete übertragen werden.
Während die allgemein anerkannten Regeln der Technik eine Mehrheitsmeinung der Praxis darstellen, ist der Stand der Technik nicht von der herrschenden Auffassung unter Praktikern abhängig. Er bestimmt sich vielmehr danach, was an der Front des technischen Fortschritts für geeignet, notwendig oder angemessen gehalten wird. Mithin bedeutet Stand der Technik den technisch und wirtschaftlich realisierbaren Fortschritt. Im Gegensatz dazu bedeuten die allgemein anerkannten Regeln der Technik die bewährte, konventionelle Ausführung.
Stand von Wissenschaft und Technik
Im Gegensatz zum "Stand der Technik" bezeichnet der "Stand von Wissenschaft und Technik" einen technischen Entwicklungsstand, bei dem Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen wissenschaftlich begründet sind und sich in Versuchs- und Pilotanlagen als technisch durchführbar erwiesen haben. Eine Umsetzung bzw. praktische Eignung im großtechnischen Betrieb steht dabei allerdings noch aus.
Der Stand von Wissenschaft und Technik stellt damit die höchste Stufe des Anwendens externen Wissens dar. Gefordert wird er aber nur dort, wo sehr hohe bis höchste Risiken für Leben, Gesundheit, Umwelt und Sachgüter bestehen wie in der Kernenergietechnik, Pharmazie, Medizintechnik oder Gentechnik.
Die Dreiwertigkeit technischer Regeln
Ausgehend von den Definitionen der Begriffe allgemein anerkannte Regeln der Technik, Stand der Technik und Stand von Wissenschaft und Technik ergibt sich eine Dreiwertigkeit bezüglich der Qualität des angewendeten technischen Wissens. Die Reihenfolge der drei Stufen bezieht sich dabei immer auf einen bestimmten Zeitpunkt des Wissens-, Erkenntnis- und Erfahrungsstands. Die Hierarchie sieht dann folgendermaßen aus:
- Stufe 1 und höchste Stufe ist der Stand der Wissenschaft und Technik,
- Stufe 2 ist der Stand der Technik,
- Stufe 3 sind die allgemein anerkannten Regeln der Technik.
Bezüglich der Forderungen aus der Produkthaftung und der Produktsicherheit führen die einzelnen Stufen beim Ausführen von Arbeiten oder bei der Herstellung von Produkten zu unterschiedlichen Sicherheitsniveaus:
- Stufe 1 ergibt das höchste bzw. machbare Sicherheitsniveau,
- Stufe 2 ergibt das mittlere bzw. erforderliche Sicherheitsniveau,
- Stufe 3 ergibt das Mindest- bzw. notwendige Sicherheitsniveau.
In diesem Kontext kommt fast von selbst die Frage nach DIN-Normen auf, und wie sie in das Dreistufensystem eingeordnet werden können. Die Antwort auf diese Frage finden Sie im dritten Kapitel.
Weitere Kapitel:
Kapitel 1: Allgemeines zu Normen und technischen Regeln
Kapitel 3: DIN-Normen als technische Regeln
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