
Berufsbildung ohne GrenzenNach dem Meister: Dachdecker Michel Seidensticker in Japan
Interview: Malte Stegner
Mit Unterstützung der Mitarbeiterinnen von „Berufsbildung ohne Grenzen“ können Lehrlinge, junge Gesellen und Meister ein durch Erasmus+ gefördertes Auslandspraktikum absolvieren. Wir haben mit Michel Seidensticker gesprochen, der kurz nach seiner Meisterprüfung als Dachdecker neue Eindrücke in Japan gesammelt hat.
Michel, du meldest dich aus Japan. Ein ungewöhnliches Ziel. Wie bist du dazu gekommen?
Vor meiner Reise habe ich ein Videoformat gesehen, das hieß „Deutsche in Japan“. In dem werden ganz verschiedene Personen und Berufe vorgestellt und da dachte ich mir, warum nicht mal ein Dachdecker in Japan? Dem ging schon ein Auslandsaufenthalt in meinem zweiten Lehrjahr voraus, den ich in Frankreich verbracht habe. Schon damals fand ich es als sehr bereichernd, zu sehen wie im eigenen Handwerk in anderen Ländern gearbeitet wird. Seitdem hatte ich immer wieder Lust, für eine Zeit im Ausland zu arbeiten, mein Wissen zu erweitern und die Kultur kennenzulernen.
Wie kam dein Wunsch nach einem Auslandpraktikum zu Stande?
Es gab jetzt nicht die eine Sache, die den Impuls dazu gegeben hat. Viele japanische Serien, die man als Kind gesehen hat, haben in mir schon früh das Fernweh nach Japan geprägt. Auch habe ich als Kind Judo gemacht und hatte schon damals sehr viele Berührungspunkte mit Japan und der Wunsch, dieses Land kennenzulernen ist immer geblieben. Bestärkt wurde mein Wunsch dadurch, dass es im ersten Jahr nach dem Meister die Möglichkeit zur Förderung eines Auslandspraktikums gibt. Ebenfalls wollte ich den Sprung wagen und das Praktikum in einem Land machen, dessen Sprache ich nicht spreche, um mal etwas ganz Neues auszuprobieren.
„Im Gegensatz zu Deutschland ist es allerdings sehr ruhig. Es läuft kein Radio auf der Baustelle und auch wird dort unter den Kollegen generell eher leise gesprochen.“
Wie lange bist du in Japan?
Insgesamt dauert mein Aufenthalt hier 85 Tage. Das benötigt man schon, um diese ganz andere Kultur kennenzulernen und richtig mit dem Land und den Einheimischen in Kontakt zu kommen.
Wie kommt man als deutscher Dachdecker dort zurecht, wie ist die Arbeit mit den Kollegen? Du sprichst gar kein Japanisch?
Es lebt sich hier sehr gut. Im täglichen Leben ist die Sprachbarriere zwar vorhanden, aber Japaner sind unglaublich hilfsbereit. Die Kommunikation mit „Händen und Füßen“ funktioniert erstaunlich gut. Mit den Kollegen ist es auch sehr interessant, denn ich komme auch ohne Japanisch auf der Baustelle zurecht. Durch mich lernt ein Kollege in meinem Alter jetzt Englisch, damit wir uns neben Google Übersetzer etwas besser unterhalten können. Das ist eine gastfreundschaftliche Offenheit, die mir sehr gefällt.
Im Gegensatz zu Deutschland ist es allerdings sehr ruhig. Es läuft kein Radio auf der Baustelle und auch wird dort unter den Kollegen generell eher leise gesprochen.
Michel, du hast deine Familie mit nach Japan genommen und teilst dein Leben mit uns auf Instagram. Wie ist das Leben im fernen Osten?
Es ist sehr anstrengend als Familie, u.a. weil die Japaner sehr lange Arbeitszeiten haben. Ich bin zum Beispiel von 7 Uhr morgens bis halb 7 am Abend unterwegs und die Kollegen teilweise noch länger. Im Alltag bleibt deswegen eher wenig Zeit für die Familie. Persönlich empfinde ich auch 10 Tage Jahresurlaub, wie ihn die Kollegen hier haben, als deutlich zu wenig.
Mir gefällt an meinem Praktikum aber auch besonders, dass wir so das Land nicht als Urlauber erleben, sondern so wie es wirklich ist. Meine Frau und meine Tochter haben so natürlich die Chance sehr viel Zeit miteinander zu verbringen, da es hier sehr sicher und sehr ruhig ist.
Das deutsche Dachdeckerhandwerk ist weltberühmt für seine hohen Qualitätsansprüche. Steht Japan uns dort nach oder sind sie uns voraus?
Teilweise ist der Baustil sehr westlich. Andererseits ist der Kawara Baustil (weitere Details dazu unten), bestehend aus speziellen Ziegeln, in der Tempelbauweise sehr prägend für das Bau- und Landschaftsbild. Technisch gesehen hingegen, was Materialien, Bauweisen, Gerüste oder die Arbeitssicherheit angeht, ist Deutschland gerade im Wohnhausbau Japan weit voraus. Darauf können wir sehr stolz sein, dass wir in der deutschen Ausbildung alles von Anfang an für drei Jahre lang lernen. In Japan wird hingegen mehr auf Optik und Ästhetik der Dächer geachtet als auf materielle Korrektheit und Solidität in der Bauweise. Hier wird tatsächlich viel mit fabrikgefertigten Bauteilen gearbeitet, die nur noch verlegt werden müssen. In Deutschland steckt noch viel mehr handwerkliche Arbeit in allem, da die Teile individuell auf das Bauobjekt angepasst werden. Anders hingegen ist es bei den Kawara Dächern, wo sehr präzise und mit Blick fürs Detail gearbeitet wird.
Was können wir voneinander lernen, was könnten sich Deutsche von Japanern abschauen und andersrum?
Gerade auf der Baustelle können wir von den Japanern sehr viel lernen, was gerade den respektvollen Umgang untereinander angeht. Das Prinzip kann man mit „jeder dient jedem“ beschreiben, so als würden alle für die anderen mitdenken, damit die Arbeitsschritte bestmöglich erledigt werden können. Ich erlebe auch hier eine enorme Hilfsbereitschaft untereinander beim Arbeiten. Das fehlt mir in Deutschland zum Teil. Der Fokus auf die Arbeit ist hier in Japan ebenfalls enorm. Während der Arbeit konzentriert man sich wesentlich stärker und es gibt kaum Ablenkungen. Besonders beeindruckend ist im Dachdeckerhandwerk der japanische Sinn für Nachhaltigkeit. Selbst kleinste Stücke werden hier aufbewahrt und später wiederverwendet. Hingegen ist die Arbeit in Deutschland deutlich effizienter organisiert, was man im Vergleich auch an den hiesigen sehr langen Arbeitszeiten sieht.
Sehr interessant. Kannst du uns erzählen, wie dort die Ausbildung funktioniert, wie wird man als junger Japaner Dachdecker?
Ein Ausbildungssystem wie wir es kennen, gibt es in dem Sinne nicht. Die akademische Ausbildung ist mit unserer vergleichbar, hingehen nicht die berufliche. Nach der Schule fängt man in einem Betrieb an und es ist „learning by doing“. Man lernt im Betrieb vom Meister. Diese Meister gliedern sich in die Level 3 bis 1 wovon 1 das höchste ist, für das man mindestens sieben Jahre Berufserfahrung benötigt, um eine entsprechende Prüfung abzulegen und sich zertifizieren zu lassen. Da habe ich dann wieder gesehen, wie qualitativ gut unsere Ausbildung zwischen Schule, ÜLU und Betrieb ist. Im Nachhinein blicke ich durch diesen Vergleich umso positiver auf meine eigene Ausbildung.
Auf welche Techniken kann man sich in Japan spezialisieren? Was macht die dortige Arbeit so besonders?
Kawara ist zum Beispiel eine sehr beliebte Spezialisierung, da dies ein sehr traditionsreicher Arbeitsbereich ist, der das Landschaftsbild Japans prägt und aller Orten widerspiegelt. Das ist eine sehr kunstvolle Arbeit im Stil einer geschwungenen Schieferdeckung, die wirklich einzigartig für Japan ist. Ansonsten sind die Bereiche vielfältig. Es gibt Bitumenschindel, Metalldächer und westliche Ziegel. Selten sieht man noch sehr traditionelle Häuser mit Strohdächern, die mit unserer Reetbauweise vergleichbar sind. Auf Okinawa ist hingegen die Mönch-und-Nonne-Bauweise, wie wir sie aus dem Mittelmeerraum kennen, sehr verbreitet, dementsprechend hoch ist dort die Spezialisierung.
Im Dachdeckerhandwerk steht Nachhaltigkeit und Wärmedämmung stark im Vordergrund. Wie gehen die Kollegen vor Ort damit um?
Leider fehlt hier das Bewusstsein für das Konzept der Wärmedämmung, die quasi auch nicht vorhanden ist. Die alten traditionellen Häuser und Türen hatten zum Beispiel Papier als Hauptmaterial im Einsatz. Auch bei Neubauten wird sehr wenig gedämmt. Da es nur äußerst selten Zentralheizungen gibt, ist es eigentlich in jedem Raum sehr kalt. Außer in einem Raum, der meist das Wohnzimmer ist und in dem ein Kotatsu-Tisch steht, an dem alle gemeinsam ihre Füße unter einer Decke wärmen können. Das Familienleben spielt sich wegen mangelnder Dämmung des Hauses und des Daches also oft im Wohnzimmer ab (lacht).
Werden Materialien auf dem Dach verwendet, die wir in Deutschland so nicht kennen?
Kawara gibt es natürlich in Deutschland nicht, allerdings wird je nach Haus oft mit hanggefertigten Verzierungen und Fresken gearbeitet, die wir so auch nicht kennen und Onigawara genannt werden. Ansonsten ist alles, was aufs Dach kommt recht ähnlich.
In Deutschland unterscheiden sich die Regionen stark. Im Norden decken wir oft mit Reet, im Süden mit gebrannten Ziegeln. Wie sieht das in Japan aus?
Diese Unterschiede gibt es in Japan auch. Kyoto und Osaka sind ja für sehr viele traditionsreiche Tempel bekannt, da ist viel mit Kawara gedeckt. Okinawa ist wie gesagt sehr mediterran im Baustil. Wegen der im Winter sehr kalten Temperaturen wird im Gegensatz zu anderen Regionen in Hokaido im Norden tatsächlich mit mehr Dämmung gearbeitet. Grundsätzlich ist es aber sehr gemischt. Zum Beispiel sieht man in Tokio die modernsten Wolkenkratzer und direkt daneben alte Häuser, bei denen man sich fast wundert, dass sie noch stehen.
„Das Prinzip kann man mit „jeder dient jedem“ beschreiben, so als würden alle für die anderen mitdenken, damit die Arbeitsschritte bestmöglich erledigt werden können.“
Welche Rolle spielt Photovoltaik für japanische Dachdecker?
Das ist in Japan tatsächlich kein großes Thema. Neubauten haben teilweise Photovoltaik installiert, auf Bestandsbauten und insbesondere auf den traditionellen Kawara Dächern habe ich das jetzt noch nicht gesehen. Ich kann mir vorstellen, dass es bei diesem Thema in Japan keine wirkliche Förderung wie zum Beispiel in Deutschland gibt.
Was sind für dich die wichtigsten Dinge, die du hier im Ausland gelernt hast?
Da kommen wir zurück zum Punkt, was man voneinander lernen kann. Ich möchte definitiv weniger am Handy sein und mehr bei der Sache. Bei zu viel Multitasking leidet der Kopf darunter, und man arbeitet besser, wenn man sich auf eines konzentriert. Durch die viel kleineren Wohnverhältnisse lernt man auch gut, mal mit etwas weniger zurecht zu kommen. Man lernt zu schätzen, was man hat. Für mich selbst möchte ich die innere Ruhe der Japaner mit nach München nehmen.
Du arbeitest mit deinem Bruder zu Hause im eigenen Familienbetrieb. Schickt ihr eure Auszubildenen ebenfalls ins Ausland?
Aktuell haben wir noch keine Auszubildenden. Wenn wir später ausbilden, wird es auf jeden Fall dazu kommen und wir werden unsere Auszubildenden mit dem Blick in alle Welt fördern. So viel wie man in drei Monaten im Ausland für sein Handwerk und für sich selbst mitnehmen kann, ist unbezahlbar.
Was sind für dich die nächsten Schritte, wenn du wieder zu Hause bist?
Ich werde erstmal versuchen, all die Dinge umzusetzen, die ich mir hier vorgenommen habe. Ab dem Frühjahr geht dann in München die Arbeit wieder los. Jetzt im zweiten Jahr möchten wir auch unsere Firma weiter ausbauen. Meine persönliche Marathon-Vorbereitung hat hier leider etwas gelitten, da werde ich in München weiter trainieren.
Und doch: Wird Japan dich bald wiedersehen?
Ja, ganz sicher: Die Firma hier hat auch schon angeboten, nach Deutschland zu kommen, wenn es dort mal ein japanisches Projekt gibt. Was mich so fasziniert: Japan ist noch sehr japanisch und ursprünglich. Es gibt hier kaum Einflüsse von außen. Als Besucher erlebt man dieses Land auf eine eindrückliche Weise. Da möchte ich noch viele weitere schöne Eindrücke sammeln.
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Info: Kawara. Materialien und Technik
Kawara sind traditionelle, japanische Dachziegel in einer leicht gerundeten Form, die in zahlreichen Arbeitsschritten und mit handwerklicher Präzision hergestellt werden. Dadurch gewinnt der Kawara eine unglaublich hohe Qualität, die man als Deutscher hier von den Bedachungen so nicht erwarten würde.
Zuerst werden verschiedene Arten von Lehm vermischt und ihnen der Sauerstoff nach und nach entzogen. Unter konstanter Einhaltung der Feuchtigkeit werden danach die Lehmstücke geschnitten, bevor sie mittels einer Presse in die Form der späteren abgerundeten, konvexen Dachziegel gebracht werden. Anschließend werden die Kawara Stücke luftgetrocknet und im Brennofen gehärtet. Das Besondere ist hier die Dauer, die die Dachstücke im Ofen verbringen. Nach und nach wird die Brenntemperatur auf 1165 Grad Celsius gesteigert während die Ziegel ganze vier Tage im Ofen bleiben. Diese Methode wird Yokka Gama genannt. Die lange Brenndauer ist nötig, um im verwendeten Lehm enthaltenes Eisen herauszulösen. Würde hingegen Eisen im Lehm zurückbleiben, könnte später Rost an den Kawara Elementen auftreten. Der vorletzte Schritt ist die Rauchung, was bedeutet, dass Kohlenstoff als eine Art Versiegelung auf der Oberfläche fixiert wird. Am Schluss werden die Kawaras in Handarbeit vom Ruß befreit und poliert bevor sie auf dem Dach verbaut werden.
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